Adolfsampel

adolfsampelStellt Euch vor, es gäbe weder verbindliche Kommaregeln noch ein ausgefeiltes Ampelsystem. In Deutschland ist, wer das Komma vor dem Infinitiv vergisst, der Legasthenie verdächtig, wer aber die Ampel bei Rot überschreitet, verhält sich bereits in verdächtigem Maße subversiv. Wer die kleinen Regeln bricht, nimmt es bestimmt auch mit den großen nicht so genau. Kaum auszudenken, welch grausiges Chaos ohne amtliche Regularien herrschen würde.

In Afghanistan ist dieser Zustand schlicht Alltag. Das anschaulichste Beispiel ist tatsächlich der Straßenverkehr. Es gibt keine offiziellen Regeln, außer dass man einen Führerschein braucht – aber der ist gegen Bares schnell erworben. Der Versuch, Ampeln einzuführen, schlug zunächst fehl: Statt mit gebotener Ernsthaftigkeit auf Grün zu warten, stiegen verzückte Verkehrsteilnehmer aus ihren Autos, um sich am Spiel der Lichter zu erfreuen.

Wer vor dem Kreisel des Kreisverkehrs links abbiegt, anstatt ihn zu umfahren, wird nicht einmal vom Verkehrspolizisten angepfiffen. Wer für längere Strecken mal auf die Gegenspur ausweicht, wird keinesfalls schief angeguckt. Auf die Gegenfahrbahn zu preschen, um vor dem herannahenden Gegenverkehr an der Kreuzung anzukommen und abzubiegen, gilt als sportlich. Kreuzungen werden aus Prinzip nicht freigehalten.

Gut hupen!adolfsampel

In Kabul erfüllt auch das Hupen einen anderen Zweck als in Deutschland. Wer in Deutschland die Hupe betätigt, streckt eigentlich den Mittelfinger aus, um ein Arschloch hinterher zu rufen. Afghanen hupen, selten weil sie zornig sind. Hier erfüllt die Hupe noch den ursprünglichen Zweck der Warnung: “Ich will dir zwar nichts Böses, aber bleib lieber stehen, wo du bist, ich komm vorbeigedüst!”

Der Straßenverkehr regelt sich hier nach ungeschriebenen Regeln, wie von Geisterhand. Nach deutschem Maßstab ist diese Art des freien Verkehrs allerdings schwer ineffizient, weil zeitraubend. Doch sind die Fahrzeuge während der Kabuler Rushhour noch so sehr ineinander Verkeilt, die Arterie pumpt weiter und irgendwann fließt der Verkehr wieder, mal schneller, mal langsamer, aber unaufhaltsam.

Ich will hier nicht zu sehr romantisieren. Schließlich bedeutet der Naturzustand des Autoverkehrs auch, dass die Gleichheit unter den Autofahrern in Gefahr ist, weil das Recht des Stärkeren droht, sich Bahn zu brechen. Wer mit einem gepanzerten Jeep durch die Straßen kutschiert, ist schnell mal versucht, dem zerbeulten Kleinwagen den Weg abzuschneiden.

Drive and let ride

Ohne Rücksicht auf Verluste wird hier allerdings nicht gefahren. Es herrscht eine Art leben und leben lassen. Die schwächsten Verkehrsteilnehmer genießen erstaunlich hohen Artenschutz. Gerade neulich bog eine Gruppe Fahrradfahrer vor dem Fender des Geländewagens, in dem ich saß, scheinbar todesmutig in die Hauptstraße ein, ohne links oder rechts zu gucken und ohne dass sich irgendjemand darüber aufgeregt hätte.

Die Abwesenheit von verbindlichen Regeln hat den erstaunlichen Effekt, dass es nur in seltenen Fällen zu schweren Unfällen kommt. Das liegt zunächst dran, dass der Verkehr langsamer fließt. Aber entscheidender ist, dass jeder Teilnehmer immer auf der Hut sein muss, denn es könnte jederzeit irgendetwas von links, rechts, vorn oder hinten in die Quere kommen. Ein befriedender Effekt, der in der Verkehrsforschung nicht unbekannt ist.

Wer in Deutschland auf einer vielbefahrenen Straße die Verkehrsregeln missachtet, kann schnell einen riesen Schaden anrichten, einfach weil sich jeder stumpf auf die Vorschriften verlässt und davon ausgeht, dass alle anderen sich auch daran halten. Ein hocheffizientes System, das jedoch, wenn es einmal zusammenbricht, zu schweren Crashs führt. Ohne Regeln, muss man hingegen auf alles gefasst sein.

adolfsampelAtsche zum Omelette

Genug des Schwelgens. Schließlich ist jeder Afghane auch nur Mensch und sehnt sich insgeheim nach Ordnung. Und diese stille Sehnsucht treibt teils merkwürdige Blüten. Fast jeder Deutsche, der sich längere Zeit hier aufhält, findet sich früher oder später in einer recht unangenehmen Lage: Er muss feststellen, dass die deutsch-afghanische Freundschaft zuweilen auf recht prekärer Grundlage steht.

Vor etwa einem Monat – ich hatte in einem Café gerade ein Omelett bestellt – fragte mich der Kellner, ob ich Deutscher sei. Ich antwortete mit einem durchaus schwungvoll Ja. Daraufhin eröffnete er mir, dass er ja ein absoluter Hitler-Fan sei, um gleich die Frage nachzuschieben, ob ich Adolf auch toll fände. Ich versuchte, eine sachliche Haltung einzunehmen und erklärte ihm, ich sei da nicht seiner Meinung, schließlich habe der Mann Millionen von Menschen auf dem Gewissen und halb Europa zerstört.

Der Kellner guckte etwas konsterniert, überlegte kurz, ließ meine Argumente scheinbar gelten und die Sache dann auf sich bewenden. Was er eigentlich zum Ausdruck bringen wollte, war, dass Deutsche und Afghanen schon lange sehr gute Freunde sind, nicht zuletzt weil sie nach landläufiger Meinung ja arische Brudervölker sind.

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Macht und Ordnung

Aber hinter der unverhohlenen Bewunderung für den Führer steckt auch, dass einflussreichen Männern großer Respekt entgegengebracht wird. Auf ihnen ruht trotz aller schlechten Erfahrung die Hoffnung, dass sie ihre Macht einsetzen, um Afghanistan zu befrieden, das Chaos besiegen und mit kurzen, kraftvollen Schlägen für Ordnung sorgen. Für Afghanen, die in der Schule nie vom Holocaust gehört haben und wenig über die deutsche Geschichte wissen, hat der größte deutsche Warlord durchaus einen Appeal.

Es ist das Dürsten nach Stabilität und Ordnung nach 30 Jahren Chaos. Mit den Deutschen war das ja nicht anders. Das Chaos der Weimarer Republik bewies, dass eine junge Demokratie offenbar nicht dazu taugte, ein zerrüttetes Land auf die Beine zu hieven. Zugegeben, der Sprung von der Straßenverkehrsordnung zum Hitlerfaschismus ist recht groß, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass die Phänomene auf merkwürdige Weise zusammenhängen. Aber vielleicht auf andere Art als ich denke.

Die heile Welt des anarchischen Naturzustandes im afghanischen Verkehrswesen ist bereits heute akut bedroht. Mittlerweile gibt es in Kabul einige Ampeln – sogar die ganz modernen, die rückwärts zählen können. Aber vielleicht macht das Befolgen der kleinen Verkehrsregeln ja den Appeal eines Adolfs zunichte – Rotphase für Rotphase. Vielleicht ist ein funktionierendes Ampelsystem in Wirklichkeit der beste Schutz vor dem Trachten nach einem autoritären System – und nicht dessen Vorbote.

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