Gesichter der Gewalt

DSCF3248_2Es ist kurz nach zwei Uhr nachts. Er hört nicht auf. Er bellt ununterbrochen, seit mindestens eineinhalb Stunden. Ich schätze, er steht ein paar Hundert Meter weiter an der nächsten Straßenecke. Wahrscheinlich hat er die Tollwut. Er raubt mir den Schlaf. In Gedanken höre ich den Fangschuss, der ihn erlöst und mich schlafen lässt.

Gewalt ist nicht gleich Gewalt. Politisch motivierte Gewalt ist in Afghanistan nicht mehr der Rede wert. So traurig es klingt, ein Selbstmordattentat rührt nur noch die direkt Betroffenen zu Tränen. Man stumpft offenbar ab. An die latente Gefahr und Angst gewöhnt man sich schnell, um mit ihr leben zu können.

Die Taliban haben vor einer Woche den Beginn ihrer alljährlichen Frühjahrsoffensive ausgerufen. Ihre Kampagne haben sie nach einem Weggefährten des Propheten Mohammed namens Chalid ibn al-Walid benannt. Sein Beiname: “Das gezückte Schwert Gottes”. Der Schlachtplan sieht vor, weiter die afghanischen Sicherheitskräfte zu unterwandern, um Insider-Angriffe zu verüben.

Verdrängungsstrategie

Die Westler, die nicht für das Militär arbeiten, haben sich eine trügerische, aber wirksame Verdrängungsstrategie zurechtgelegt. Die Angriffe der Taliban gelten größtenteils westlichen Militärs, afghanischen Sicherheitskräften und Regierungseinrichtungen. “Ich geh’ hier höchsten als Kollateralschaden drauf”, so die fatalistische Haltung.

DSCF3247_2Doch wenn die Gewalt ihr Antlitz ändert, kommt die Angst wieder. In der vergangenen Woche hat ein Gewaltverbrechen die Expat-Community aufschrecken lassen: Am späten Abend drang eine Gruppe bewaffneter Männer in den Compound einer NGO ein. Sie überwältigten die Wache und überfielen die Bewohner, raubten Geld, Computer und andere Wertsachen. Doch viel schlimmer: Über mehrere Stunden vergewaltigten Sie eine der dort lebenden Frauen.

Der Schreck sitzt tief. Niemand vertraut der Polizei. Niemand rechnet damit, dass die Täter gefasst werden. Die Gerüchteküche brodelt. Und auf einmal ist es da, das Misstrauen. Woher wussten die Täter, dass im Compound, etwas zu holen war? Kann man seinen Wachen trauen? War der Wachmann eingeweiht? Warum öffnete er das Tor?

Runningbag und Schnellwahltaste

Ich verdamme den Hund, weil er mich wach hält. Ich fragen mich, wie ich reagiert hätte. Ich denke daran, dass ich schon längst meinen Runningbag hätte packen sollen. Ein leichter Rucksack mit Kopien aller wichtigen Dokumente, Bargeld, Handy, Wasser, etwas zu essen und Wäsche zum Wechseln. Im Notfall schnappt man sich die Tasche und haut ab.

Ich denke daran, dass wir die Nachbarn hinter unserem Haus kontaktieren sollten, weil unser Fluchtweg über ihr Grundstück führt. Ich überlege, aus welchem Fenster ich nach hinten rausklettern würde. Das meines Mitbewohners ist am besten: Es ist groß genug, damit ich mit Rucksack auf dem Rücken durchpasse. Es liegt nicht zu hoch, und ein Sprung auf das darunterliegende Blechdach wäre sicher.

Ab über den Zaun, auf die Mauer und rennen bis zur nächsten Straße.
Ich speichere die Notfallnummer unseres Sicherheitsdienstes unter einer der Schnellwahltasten. Sollten wir nicht auch einen Panic-Button installieren und einen Panic-Room mit Lebensmitteln und Wasser für sieben Tage einrichten? Ein Bekannter hat gehört, dass es auf bestimmten Basaren Handfeuerwaffen bereits für 200 Dollar zu kaufen gibt.

Kein Kollateralschaden

Der Überfall galt eindeutig Ausländern. Wir wurden daran erinnert, dass wir zu einer Zielgruppe gehören. Wenn sich die Gewalt wandelt, zeigt sich, wie angespannt die Lage und die Gemüter hinter den scheinbar gelassenen Fassaden tatsächlich sind. Als ob ein Stein, der ins ruhige Wasser fällt, einen Tsunami auslöst.

Die Verdrängungsstrategie funktioniert erstmal nicht mehr. Ein paar Tage kreisen die Gedanken und Gespräche um den Überfall. Ich habe mich oft gefragt, wie Menschen in Krisengebieten oder Verbrechenshochburgen ausharren können, ohne zu flüchten oder wegzuziehen. Es geht nicht anders.

Der Hund hört schließlich auf zu bellen.

Nota Bene: Der Vorfall wird unter den Teppich gekehrt und in der Kabuler Presse mit keinem Wort erwähnt. Ein afghanischer Freund meint, dahinter stünde keine aktive Zensur, aber wer wolle schon das eigene Nest beschmutzen – vor allem, wenn das Ministerium für Information und Kultur im Handumdrehen Lizenzen entzieht.

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