Der abgebrühteste Realist, den ich hier kennengelernt habe, nennen wir ihn Abdul, ist erst 21 Jahre alt. Er ist Sohn eines ehemaligen Armeegenerals, der mit seiner Familie aus Afghanistan flüchtete als die Taliban Mitte der Neunziger Jahre vor den Toren Kabuls standen. Abduls Vater diente dem früheren afghanischen Präsidenten Mohammed Nadschibullah, den die Gotteskrieger 1996, nachdem sie die Hauptstadt schließlich einnahmen, kastrierten und zusammen mit dessen Bruder am Straßenrand aufknüpften.
Fortan wuchs Abdul mit seinen sieben Geschwistern in der westpakistanischen Stadt Peschawar auf, wo er eine Privatschule besuchte. Er spricht neben Dari und Paschtu fließend English und gehöre, wie er selbst sagt, zur Kabuler Mittelschicht. Rein äußerlich sieht er nicht viel anders aus als seine Altersgenossen in Berlin oder London. Zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehört es, mit seinem Smartphone rumzuspielen. Sein Bruder ist Unternehmer in Dubai.
Abdul ist gelernter Grafiker und löst so ziemlich jede Aufgabe, die er aufgetragen bekommt, extrem fix. Manchmal geradezu überstürzt. Zudem verfügt er über heimliches Herrschaftswissen, das es ihm ermöglicht, seine Intelligenz gezielt einzusetzen: Er hat verstanden, was die Khadiji, die Ausländer, wollen, welchen Typ Afghanen sie suchen. Er möge die Deutschen, wegen ihrer Arbeitsmoral, sagt Abdul.
Abdul lässt seinem jugendlichen Chauvinismus öfter mal freien Lauf. Er hält nicht viel von seinen Landsleuten, zieht gerne über die rückständigen Bauern aus den Provinzen her. Dass die emsigen Aufbauhelfer und Gutmenschen, deren oberstes Gebot kulturelle Feinfühligkeit zu sein scheine, diesen Rückständigen auch noch den Hof machten, findet Abdul ziemlich verschroben.
Abdul selbst betet nicht. Er lasse sich nicht einschüchtern und mache einen auf religiös, nur um es anderen recht zu machen. Er trinkt gerne mal einen. Mit seinen Kumpels Shisha rauchen oder Billard spielen gehen, versteht sich von selbst. Auch wolle er nicht in einem dieser gläsernen Paläste heiraten, den verspiegelten Wedding Halls, die überall in Kabul rumstehen. Mit total übertriebenen Hochzeitsfesten schießen sich viele Kabulis ins finanzielle Aus.
Abdul findet auch, viele Afghanen hätten kein Benehmen und falsche Einstellungen. Anders als beispielsweise die Pakistaner. Und Abdul macht sich keine Illusionen: “Kabul sieht von außen betrachtet nett aus, mit den neuen Gebäuden und Leuten mit Jeans an”. Tatsächlich seien seine Landsleute apathisch. Sie schimpften zwar gerne lauthals über Politiker, doch wenn es darum gehe, gegen etwas zu demonstrieren, zögen sie die Schwänze ein.
Abdul ist eigentlich der Prototyp des guten Afghanen: gut ausgebildet und mit Ansichten, die einem fortschrittlichen Afghanistan gut zu Gesicht stehen. Abdul zeigt dem Westen allerdings auch auf, dass das Land, welches es seit zehn Jahren versucht aufzubauen, weder ein Staat noch eine Nation ist. Abdul zeigt auf, dass es in Afghanistan nicht nur verschiedene Volksgruppen und verschiedene Glaubensrichtungen gibt: In Afghanistan herrscht auch ein wenig Klassenkampf.