War in Fantasyland

barbed_wire_blackhawkEs ist Frühling in Kabul. Die Sonne scheint. Ich sitze bei offener Tür im Büro und gucke über das Rosenbeet dem Gras bei Wachsen zu. Die monströsen Generatoren im Innenhof schweigen, weil der Strom der Stadtwerke ausreicht. Im Frühling sinkt der Verbrauch, denn die Elektroöfen sind ab- und die Klimaanlagen noch nicht angeschaltet.

Ich lausche den Wortgefechten der afghanischen Kollegen auf Dari ein paar Türen weiter. Das Gedudel des Eisverkäufers und Kreischen der Jungs, die auf der Schlaglochpiste vor dem Compound Fußball spielen, dringt zu mir herüber. Die Soundanlagen der Moscheen geben dem Ruf des Muezzins einen leicht metallischen Hall.

Es ist ein Idyll, das es eigentlich nicht geben dürfte. Afghanistan gibt es nicht. Zumindest nicht das Afghanistan, welches in der Vorstellung der meisten Europäer existiert. Fast alle Berichte aus diesem Land sind Wiederholungen ein und derselben Geschichte von Krieg, Armut und Chaos. Unser Afghanistanbild wird immer wieder unterfüttert.

Dahinter steckt keine böswillige Verschwörung. Der Journalismus ist, zumindest derjenige, der gewinnbringend am Markt verkauft werden muss, darauf angewiesen, Vorurteile zu bedienen, anstatt sie aus der Welt zu räumen. Wer am Morgen seine Zeitung aufschlägt, will nicht, dass sein Weltbild jedes Mal aufs Neue in Frage gestellt wird.

Zerklüfteter Krieg

Als ich vor eineinhalb Jahren das erste Mal am Kabuler Flughafen aus der Maschine stieg dachte ich deshalb, ich sei im Kriegsgebiet abgesetzt worden. Allerdings war daran auch mein Auftrag schuld: Ich sollte als Journalist drei Wochen die US-Army begleiten. Ich hatte nur eine vage Vorstellung, dass der Krieg weder linear verläuft noch flächendeckend ist. So wie Afghanistan kein geeinter Nationalstaat ist, gibt es auch kein zusammenhängendes Kriegsgebiet.

Das Afghanistan des Nordens ist ein anderes als das des Südens, Ostens und Westens: politisch, ethnisch, kulturell, geologisch und klimatisch. All diese Variablen wirken sich auf die Form der Kriegsführung und die Intensität des Kampfes aus. Der Krieg wechselt von Provinz zu Provinz und Distrikt zu Distrikt sein Gesicht. Die Landschaft ist mancherorts so zerklüftet, dass vom Krieg in einem Tal im nächsten nichts zu hören ist.

In unserer Vorstellung herrscht Krieg oder Frieden. Wir haben ein totalitäres Bild vom Krieg. Vielleicht ist dieses ein Teil des Erbes und Traumas des Zweiten Weltkrieges. Afghanistan aber ist kein Industriestaat und der Krieg ist nicht industrialisiert. Es gibt weder Panzerschlachten noch Flächenbombardements. Es herrscht ein sogenannter Low Intensity Conflict.

Klar, hier knattern in aller Regelmäßigkeit Militärhubschrauber im Tiefflug vorbei, um mich daran zu erinnern, wo ich bin und dass die Idylle wahrscheinlich trügt. Die hohen Mauern, der Stacheldraht und die Wachen mit den Kalaschnikows, haben ihre eigene Aussagekraft. Die Abwesenheit eines Frontverlaufs bedeutet auch, dass jederzeit und überall etwas passieren kann.

Afghanistan und der Krieg sind in diesem Sinne unfassbar. Jeder Nationalstaat ist konstruiert, aber Afghanistan ist fantastisch. Krieg herrscht dort, wo gerade geschossen wird. Insofern sind Afghanistan und der Krieg eine ziemlich postmoderne Angelegenheit. Unser Afghanistanbild gleicht ein wenig dem Etikett des Bieres “St. Pauli Girl” aus den USA: Es bleibt ein klischeehaftes Gebräu.

St-Pauli-Girl

Das Endspiel

taimani_street_kabulDer erste Tag des Jahres 1392 beginnt wie viele Tage zuvor: Ich werde vom Scheppern der mit Schutzfilm beschichteten Fensterscheiben meines Schlafzimmers geweckt. Mein Zuhause im Stadtteil Qala-e Fatullah liegt in der Flugschneise, die das Hauptquartier der Schutztruppe ISAF in Kabul mit der größten ISAF-Luftwaffenbasis Bagram 60 Kilometer weiter nördlich verbindet. Militärhubschrauber donnern im Tiefflug über die Stadt, aus Sicherheitsgründen immer im Doppelpack.

Die Afghanen feiern Nawruz, Neujahr. Die Winterpause ist vorbei. Das Thermometer hat die 15-Grad-Marke geknackt. Von hinter der blassgelben, drei Meter hohen Außenmauer des Anwesens dringt eine einfache Melodie durch Sichtschutz und Stacheldraht. Nachdem der letzte Schnee vor etwa zwei Wochen schmolz, haben die Eisverkäufer mit ihrer Frühjahrsoffensive begonnen. Mit einem Megaphon bewaffnet, manchmal selbst ein Eis schleckend, schieben sie ihre roten Kühlwägelchen die Straßen rauf und runter.

Das Wetter spielt in Afghanistan eine wichtige Rolle, nicht nur weil ein Großteil der Bevölkerung auf dem Land lebt und direkt von der Landwirtschaft abhängig ist. Im Frühjahr, wenn die Pässe der Gebirgsausläufer, die Afghanistan von seinem Nachbarn Pakistan trennen, wieder überquert werden können, nimmt auch der Kampf der Aufständischen wieder an Fahrt auf. Sie infiltrieren das Land aus ihren Rückzugsgebieten in Pakistan.

Ein amerikanischer Journalist sagte mir neulich, er wundere sich, dass die Taliban noch nicht im großen Stil zugeschlagen hätten. Nicht, dass sie es noch nicht versucht hätten: Erst vergangene Woche stellte der afghanische Geheimdienst NDS im Westen Kabuls einen Lastwagen mit acht Tonnen Sprengstoff sicher. Die Bombe hätte gleich mehrere Blocks dem Erdboden gleich machen können.

karsai_on_a_wallHoffnungsvoller Fatalismus

Die Stimmung in Kabul wabert irgendwo zwischen Hoffnung und Fatalismus. Die kommenden zwei Jahre sind entscheidend für Afghanistan. Nächstes Jahr findet erstmals seit dem Fall der Taliban ein Machtwechsel statt, ein neues Staatsoberhaupt wird gewählt. Präsident Hamid Karsai darf nach zwei fünfjährigen Amtszeiten nicht wieder antreten. Einen aussichtsreichen Anwärter auf das höchste Staatsamt gibt es noch nicht.

Im Dezember 2014 nach unserer Zeitrechnung endet dann auch die ISAF-Mission und die Truppensteller werden ihre Soldaten ganz abgezogen haben, oder wie im Falle der USA und Deutschlands ein Kontingent zurücklassen, dass dann nur noch die afghanischen Soldaten ausbilden und unterstützen soll. Ein paar Staaten, wie etwa die USA, Großbritannien und Neuseeland, wollen zusätzlich noch ein paar Spezialkräfte stationiert lassen, sollte die Al-Kaida doch noch ein Comeback planen.

Im weiterhin unruhigen Süden des Landes sitzen die westlichen Soldaten jetzt schon den Krieg aus, bewegen sich nicht mehr aus ihren Lagern heraus. “Wir haben unser Profil soweit reduziert, dass wir keine Kampfhandlungen mehr durchführen”, sagte Brigadier Robert Bruce, der Oberkommandierende der britischen Truppen in der Provinz Helmand, der BBC. Anfang der Woche gab die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt bekannt, dass Dänemark die Hälfte seiner Truppen ein Jahr früher abziehen werde, diesen August sollen sie Helmand verlassen.

Bereits jetzt sind die in Windeseile auf mehr als 350.000 Mann aufgestockten afghanischen Sicherheitskräfte in den meisten Landesteilen für den Schutz der Bevölkerung verantwortlich. Der Sprecher des afghanischen Innenministeriums, Ghulam Siddique Siddiqui, sagte auf einer Pressekonferenz in Kabul, die Zahl der getöteten afghanischen Polizisten sei für das vergangene Jahr auf 1.800 gestiegen, hinzu kämen etwa 3.000 Verletzte. Das afghanische Verteidigungsministerium verzeichnete seinerseits fast 1.200 getötete Soldaten. Zum Vergleich: 2012 wurden mehr als 400 ISAF-Soldaten getötet, dieses Jahr kamen bisher 21 um.

Schwindendes Interesse

Gerade jetzt, wo Afghanistan in die entscheidende Phase der Selbstständigkeit tritt, schwindet das Interesse des Westens mit jedem ISAF-Soldaten, der das Land verlässt. Trotz des herannahenden Endes des militärischen Engagements hat die Bundesregierung zugesagt, dass sie Afghanistan bis 2016 mit mindestens 430 Millionen Euro im Jahr weiter unter die Arme greifen wolle. Afghanistan ist weiterhin der größte Empfänger deutscher Entwicklungshilfe.

Es macht sich dennoch das Gefühl breit, nur noch Schnee von gestern zu sein. Wie schnell das mediale Interesse an einem Land schwindet, wenn keine westlichen Truppen mehr dort stationiert sind, verdeutlicht der Irak. Erst in den vergangenen Tagen, an dem der Beginn der Invasion am 19. März 2003 sich zum zehnten Mal jährte, nahm die Berichterstattung vorübergehend wieder zu.

Da ist es schön, dass wenigsten das Astrologische Institut Afghanistans gute Nachrichten zu vermelden hat: In einem Exklusivinterview mit der Nachrichtenagentur Pajhwok Afghan News sagte der Vorsitzende des Instituts, Dr. Muslim Jamal, der Jahreswechsel habe eine Periode des Wohlstandes für die ganze muslimische Welt eingeläutet, vor allem aber für Afghanistan. Viele Probleme würden gelöst werden. Er forderte die Afghanen dennoch auf, für ihr Land zu beten.

Die Zukunft Afghanistans steht in den Sternen, wer sie deuten kann, ist klar im Vorteil!

Der Krieg in Baburs Garten*

baburs_gartenIm Juli nähert sich das Quecksilber der 40-Grad-Marke. Staub und Smog tünchen die Dreimillionenmetropole in ein gelbliches Licht. Zerbeulte und zerkratzte Toyota Corollas, das Auto der Wahl der Kabulis, pusten Abgase in die Luft. Die, ohne eigenes Gefährt, quetschen sich in Mitsubishi-Kleinbusse und müssen achtgeben, nicht aus den offenen Schiebetüren zu fallen. Dazwischen drängeln sich die Ford-Pritschenwagen von Polizei und Armee.

Fahrspuren und Markierungen gibt es nicht. Kreisverkehre werden auch in der Gegenrichtung umfahren. Falschfahrer gehören auf vierspurigen Schnellstraßen dazu. Fußgänger kreuzen, ohne auf den Verkehr zu achten, die Straßen. Fahrradfahrer kennen keine Angst vor den Fendern der Geländewagen. Der Versuch, Ampeln einzuführen, blieb ohne Erfolg: Das Konzept leuchtete den Kabulis nicht ein: Schaulustige stiegen aus ihren Wagen, um die Ampeln zu bestaunen und verschlimmerten das Verkehrschaos zusätzlich.

Einrichtungen der Schutztruppe ISAF, ausländischer Hilfsorganisationen und afghanischer Ministerien sind mit hohe Mauern und Stacheldraht eingefasst. An den Eingängen stehen Wachposten hinter Sandsäcken, vermummt und mit Schnellfeuergewehren im Anschlag. An den großen Kreuzungen parken gepanzerte Geländewagen der Nationalarmee, mit schweren Maschinengewehren auf den Dächern. Ausländer wohnen in Safe Houses, mit Panic Rooms, von privaten Sicherheitsmännern mit umgehängten AK-47s und umgeschnallten Magazingürteln bewacht.

Während sich die Ausländer, Diplomaten oder Angestellte von Hilfsorganisationen, in pittoresken Gartenrestaurants wie dem ‘Sufi’ oder dem ‘Flower Street Café’ treffen, in denen ihre Begleiter ihre Pistolen am Eingang lassen, gibt es für die einfachen Kabulis nur wenige Rückzugsorte, um dem Chaos und der Gefahr zu entfliehen. Einer dieser wenigen Orte ist der Garten Baburs.

baburs_garten_2Der Schein trügt

In der größten Grünanlage Kabuls, am Rande der Stadt, zwitschern die Vögel, der rasen steht gut gesprengt in saftigem Grün, Grüppchen sitzen unter Bäumen und plaudern. Es ist ein magischer Ort, der Ruhe und Frieden ausstrahlt, in dem kein Müll liegt, kein Lärm zu hören ist und das Kabul des Staubes und Stacheldrahts weit entfernt scheint. Für ein Paar Afghanis hat hier jeder Zutritt.

Habibi Wahid lebt Hamburg. Zusammen mit seinem achtjährigen Sohn und seiner 14-jährigen Tochter verbringt er seiner Frau zuliebe die Ferien in Kabul bei den Schwiegereltern. Habibi trägt einen weißen Schalwar Kames, darüber eine Weste, die traditionelle afghanische Tracht. Niemandem soll auf den ersten Blick auffallen, dass er im Ausland lebt, er hat Angst, ihm könnte sonst etwas zustoßen.

Er floh 1991, noch bevor die Taliban an die Macht kamen, nach Deutschland. Er ist 36 und kommt ursprünglich aus dem Westen des Landes, aus Herat. In Hamburg machte er sich als LKW-Vermittler selbstständig, der für afghanische Klienten nach gebrauchten Lastwagen in Deutschland sucht und sie über den Landweg nach Afghanistan exportiert.

Die Kinder freuten sich zwar, ihre Großeltern zu sehen, aber er sei hier nicht mehr zuhause. “Die Taliban machen hier einfach, was sie wollen!”, entrüstet er sich. Afghanistan sei ihm nicht mehr geheuer. Er sei zwar im Urlaub hier, aber entspannen könne er sich nicht. Seine Kinder könnten nur in Begleitung auf die Straße. Er werde nie wieder hierher zurückziehen. “Der Schein im Park trügt, 100 Prozent!”.

baburs_garten_3Die falsche Frisur

Kaiser Babur ließ die Gartenanlage Anfang des 16. Jahrhunderts anlegen. Seine Gebeine liegen in einem Mausoleum aus Marmor auf dem Gelände hinter einer Moschee. Der Park wurde während der sowjetischen Invasion und der Herrschaft der Taliban zerstört und von 2002 bis 2005 von der Aga-Khan-Stiftung, mit deutscher Unterstützung, wieder aufgebaut. Die UNESCO nahm den Park 2009 vorläufig ins Weltkulturerbe auf.

Mohammed Rafi ist mit seinen Freunden im Park. Er ist 18 Jahre alt und wohnt ganz in Nähe in einem Schulheim. Nach dem Unterricht kommt er oft hierher. Wenn der Ramadan Ende Juli beginnt und die Schule aus ist, wird er einen Englischkurs belegen. Er ist im letzten Jahr der Oberschule und das Ergebnis seines Eignungstests für die Universität wird hoffentlich gut genug sein, dass er Recht und Politik studieren kann.

Zum Ramadan würde er gerne seine Familie in Nuristan im Osten des Landes besuchen. Er vermisse seine Mutter und seine sieben Brüder, habe oft Heimweh. In Nuristan sei das Klima viel angenehmer als in Kabul. Aber auf der Straße nach Hause lauerten die Taliban. Immer wieder komme es zu Überfällen. Im glimpflichsten Fall würden sie ihm den Kopf scheren, denn er trägt mittellanges Haar – eine Frisur, die den Gotteskriegern als verwestlicht aufstößt.

baburs_garten_4Lohn der Gefahr

Die etwa elf Hektar große Parkanlage liegt im Südwesten der Stadt und ist einer der wenigen Orte in Kabul, an dem offen geflirtet wird. Mädchen in High Heels lassen ihre bunten Kopftücher verrutschen und werfen den Jungs kesse Blicke zu. Kinder klettern auf die Haselnuss- und Kirschbäume oder planschen in den Bewässerungskanälen. An Kiosken im Schatten der Bäume wird Saft und Tee serviert.

Mohammed Sami ist 22 Jahre und grüßt lässig mit einem “Hey Guys!” und einem entsprechenden Handzeichen. Er spricht fließend Englisch, trägt ein bedrucktes T-Shirt, Kettchen und Turnschuhe. Mohammed kommt aus Kabul und ist das erste Mal seit drei Jahren wieder im Park. Aber er langweile sich, sagt er mit einem Lachen. Er habe zwangsläufig frei, sei im Rehaurlaub. Als Dolmetscher sei er im Süden des Landes den US-Special-Forces zugeteilt gewesen.

Bei einem Feuergefecht in der Provinz Helmand habe es ihn erwischte. Er sei am Knie, Bein und am Rücken verletzt worden. Mit seinen Brüdern flaniert er durch den Park und seine Wunden können seine Laune nicht trüben. Im Gegenteil, er wolle so schnell es gehe wieder zurück. Bei den Amerikanern verdiene er 1.500 bis 2.000 Dollar im Monat. Seine Familie mache sich zwar manchmal Sorgen, aber er habe keine Angst. “Ich mag es”, sagt Mohammed.

baburs_garten_6* Diesen Text verfasste ich während eines Besuchs in Kabul im Juli 2012